Rigueur mesurée et
soutenable? (Angemessene und erträgliche Budgetdisziplin?)
Grund für diese Umorientierung
ist die mehr als triste Prognose für den Euroraum, die ein negatives
Wirtschaftswachstum von -0.4% für das Jahr 2013 vorsieht; 2014 soll es kaum besser sein. Seitens der
politischen Entscheidungsträger fürchtet man eine Revolte an den Urnen gegen
die Sparpolitik, die extrem rechten und linken Kräften Stimmen zutragen
könnte. Zudem dräut eine
Generalabstrafung Europas anlässlich der Europaparlamentswahlen 2014, bei der
die Nicht-Wahlbeteiligung historisch rekordverdächtige Ausmasse annehmen
dürfte.
Nicht nur der Internationale
Währungsfond und die US-Regierung drängen seit einiger Zeit auf Politiken, die
die Binnennachfrage stärken sollen. Auch intellektuell bekam die
Antiausteritätsfraktion im April Unterstützung: Ein vielzitiertes Papier der
Wirtschaftswissenschaftler Reinhart und Rogoff, die in einer
Langzeitländerstudie ein radikales Abfallen des Wirtschaftswachstum ab einer
Staatsschuldenquote von 90% des BIP festgestellt hatten, geriet wegen Berechnungsfehler
und selektiver Datenauswahl in die Kritik.
Da hilft es den „Austeritätsmaskottchen“ (so Paul Krugman auf seinem NY Times blog) wenig, dass
ihr Hauptergebnis, ein nachweisliches Einhergehen von vermindertem
Wirtschaftswachstum bei steigenden, hohen Staatsschulden weiterhin Hand und
Fuss hat (hier,, Seite 36).
In Berlin spielte man die
Kursänderung in Brüssel herunter. Der Regierungssprecher Steffen Seibert
kommentierte knapp, dass es der Stabilitäts- und Wachstumspakt im Prinzip
erlaube, Ländern mehr Zeit zu geben, um ihr Defizit unter 3% zu bringen,
vorausgesetzt, sie würden hierfür glaubhafte Anstrengungen unternehmen.
Noch scheint Bercy, der Sitz des
Wirtschafts- und Finanzministeriums an der Seine, auch die Zitadelle genannt,
an den vereinbarten Zielen des Abbaus des strukturellen Defizits* festzuhalten.
Doch genau betrachtet, ist selbst unter der Hypothese einer verbesserten
Konjunktur eine glaubwürdige Haushaltskonsolidierung und ein wirklicher
Schuldenabbau rein rechnerisch nicht möglich. Erhöhung des Mindestlohns,
Renteneintrittsalter von 60 Jahren, 60 000 neue Stellen im Erziehungs- und
Bildungssystem, ein Ende der Politik, nur jeweils einen von zwei aus dem Dienst
ausscheidenden Beamten zu ersetzen - zwischen 2012 und 2013 haben sich die französischen Staatsausgaben um 20
Milliarden erhöht, was immerhin einem Prozentpunkt des Bruttoinlandsprodukts
entspricht. Die Möglichkeiten, statt über Einschnitte über Steuererhöhungen
mehr Geld in die Staatskasse zu bekommen, sind weitgehend ausgeschöpft. Schon
jetzt wirkt die Steuerlast (46,5%
des Bruttoinlandsprodukts) hemmend auf das Wirtschaftswachstum. Auf Dauer sind
nur wirkliche Reformen und eine Drosselung der Staatsausgaben ein Ausweg.
Dette publique? On ne paie
pas! (Staatsschulden? Wir zahlen nicht!)
Im Prinzip hat Frankreich nun Zeit
gewonnen, um seine Sozialsysteme umzubauen und seinen Arbeitsmarkt flexibler zu
gestalten. Paradoxerweise sind es oft linke Regierungen, die die Basis für
marktwirtschaftlich-orientierte Strukturreformen schaffen (man denke an
Mitterrand nach der 1983 ausgeführten 180-Grad-Wende oder an die Regierung Schröder nach 2003). Wird Hollande diese Chance ergreifen?
*denjenigen Teil des Staatsdefizits, der
nicht auf konjunkturelle Schwankungen zurückzuführen ist