Freitag, 4. Oktober 2013

„Illusion der Nähe – Bundestagswahlen, gesehen aus Frankreich“ von Johanna Möhring

Die Wahlen zum 18. deutschen Bundestag – die heisse Phase es Wahlkampfs, der Wahlausgang, sowie die „Nach der Wahl ist vor der Wahl“-Verhandlungen zur Regierungsbildung bieten ausgiebigen Anlass, sich mit dem deutschen Nachbarn auseinanderzusetzen. Doch schon im Vorfeld des Wahlsonntags machte das Studium der französischen Presse deutlich: Der enge europäische Partner ist ein weitgehend unbekanntes Wesen, mit dem man sich eher aus Pflichtbewusstsein, denn aus wahrem Interesse beschäftigt. Die Illusion der Nähe offenbart tiefe Unkenntnis: Der Blick auf Deutschland wird von wenigen namhaften deutsch-französischen Experten und stetig wiederkehrenden Klischees geprägt. Drei Themen dominieren die aktuelle Berichterstattung aus und über Deutschland: Die Person der Kanzlerin und die Feinheiten des deutschen politischen Systems, die Schattenseiten von Merkels Deutschland, sowie die Frage “Wie geht es nach den Bundestagswahlen nun weiter in Europa?” Nach der schon fast atemlosen Aufregung vor der Wahl folgt nun ein gewisses ermattetes Unverständnis über die anstehenden, schier endlosen Koalitionsverhandlungen.

„Objectif Chancellerie“ („Ziel Kanzleramt“)
Rätselhafte, beim deutschen Volk so überaus beliebte Machtpolitikerin, die Hände zum Merkelschen Rombus geformt, „Mutti“, hart gegen das Ausland, und seltsam elastisch im Inland  – Die Person der Kanzlerin lässt auch in Frankreich niemanden kalt. “Merkel, la mainmise sur l'Allemagne” (“Merkel, Deutschland fest im Griff”) titelt die linke “Liberation.” Unter anderem der rechte „Figaro“, die Wirtschaftszeitung „Les Echos“, sowie „Le Monde“ verkünden am 22. September den historischen Triumph Merkels. Aber gilt dieser wirklich uneingeschränkt? Die links-orientierte Wochenzeitschrift “Marianne” weist denn auch darauf hin, dass trotz des Wahlsieges der CDU eine Mehrheit in Deutschland für Parteien des linken Spektrums gestimmt hat. Damit hätte die amtierende und zukünftige Kanzlerin “trotz arithmetischen Sieges politisch die Wahlen verloren.”

Wer sollte es den Franzosen verübeln, ob unseres Systems zur Bundestagswahl, „einer mit Personenwahl verbundenen Verhältniswahl" ins Grübeln zu kommen? Ob Wahlsystem, welches einer klaren politischen Polarisierung entgegenwirkt oder Koalitionskonfigurationen, die in Frankreich nicht immer nachzuvollziehen sind: Herausgearbeitet werden die Unterschiede zum politischen System Frankreichs. Warum nicht eine rot-rot-grüne Koalition, fragt sich das Land, welches neben einer kommunistischen Partei, deren Hammer und Sichel erst nach dem Fall der Sowjetunion aus den Parteiinsignien entfernt wurden, über ein buntes linkes Spektrum in Regierungsverantwortung verfügt? Die Weichenstellung durch das Bad Godesberger Programm der SPD von 1959, sowie die Geschichte der “Linken” ist den wenigsten bekannt.


„Schwarz-Grün? Revolutionär!“
Der „Figaro“ verweist auf das Corneilsche Dilemma der SPD, ein aus der französischen Literatur stammender feststehender Ausdruck einer unmöglichen Wahl zwischen zwei sich gegenseitig ausschließenden, aber gleich wichtigen Werten – erneute Teilnahme an einer Regierung Merkel würde zu einem weiteren Profilverlust der Partei führen, jedoch könnten die Wähler den Gang der SPD in die Opposition ebenfalls abstrafen. Was die Hypothese einer schwarz-grünen Koalition angeht, haben französische Beobachter große Zweifel, wie hier ein Spagat funktionieren soll. Dass die „Grünen“ ein klares ideologisches Nord-Süd-Gefälle aufweisen, in Baden-Württemberg einen Ministerpräsident stellen und zum Beispiel im wohlhabenden München zuletzt zweistellige Werte in Kommunalwahlen erzielten, ist hierorts, wo sich Sozialisten und Grüne in der Regierung gerade über die hiesige Behandlung der Roma zerfleischen, noch nicht weiter aufgefallen.

Von „Precarité“ (sozialer Unsicherheit) und „SMIC“ (gesetzlichem Mindestlohn)
In jüngster Zeit muss Frankreich, sobald es um politische und wirtschaftliche Fragen geht, zähneknirschend dem Dauervergleich mit Deutschland, dem Euromusterknabenland, welches mit erledigten Sozialreformen, niedrigen Arbeitslosenzahlen und Exportüberschuss glänzen kann, standhalten. So ist es nicht erstaunlich, dass sich die französischen Dossiers zu Wahl besonders mit der Kehrseite der Medaille von Merkels Deutschland beschäftigen. Dramatisch einbrechende Demographie, die Unfähigkeit, genug Einwanderer anzulocken, doch vor allem die negativen Folgen der Hartz-IV Reformen - wachsende Ungleichheiten und arme Arbeiter - finden in Frankreich großes Medienecho. Hier ist das Wort „precarité“, welches Unsicherheit und Zerbrechlichkeit ausdrückt und besonders im sozialem Kontext gebraucht wird, in aller Munde. Zum Glück würden nun die Deutschen endlich von den Franzosen lernen und demnächst einen gesetzlichen Mindestlohn einführen (der sogenannte SMIC, der Salaire minimum interprofessionnel de croissance liegt in Frankreich aktuell bei 9,43 EUR brutto).
„Deutschland – Kehrseite eines Modells“
Nicht nur die „Libé“ prangert scheinbar Dickens'sche Zustände an

Manche französische Beobachter sprechen gar vom „German bashing“ (sic), so sehr würde explizit auf die katastrophalen Zustände im deutschen Niedriglohnsektor hingewiesen. Vereinzelte Stimmen, wie zum Beispiel die französische Ausgabe des „Capital“ und der „Figaro“ machen jedoch darauf aufmerksam, dass es sich um eine gesellschaftliche Präferenz (besser geringfügig beschäftigt als arbeitslos) handelte, die zudem gesamtwirtschaftlich positive Folgen in Form geringerer struktureller Arbeitslosigkeit, robuster Binnennachfrage und Ausbau des Dienstleistungssektors hätte. Die Zahlen – Arbeitslosigkeit (5,4% versus 10,9%), Jugendarbeitslosigkeit (12% versus 25%) und Beschäftigungsquote (mehr als 72% versus 62% in Frankreich) sprächen eine deutliche Sprache. Zwar würden 22% der Beschäftigten (gegenüber 7% in Frankreich) weniger als zwei Drittel des medianen Stundenlohns verdienen. Doch mehr als 70% der „Minijobber“ (Hausfrauen, Rentner, Studenten und Zweitjobber) seien mit ihrem Los durchaus zufrieden.

Interessierte Franzosen können zudem dem (leider nicht auf Deutsch verfügbaren) Essay „Made in Germany (Das Modell Deutschland jenseits des Mythos)“  entnehmen, dass Deutschlands Erfolg eher auf seine sozialpartnerschaftlichen Beziehungen und auf sein duales Ausbildungssystem, denn auf die Agenda 2010 zurückzuführen ist. Seinem Verfasser, Guillaume Duval, Chefredakteur der monatlich erscheinenden „Alternatives Economiques“ (gegründet als Antwort auf Thatcher's „There is no alternative“) kann kaum übertriebene Arbeitgebernähe vorgeworfen werden.

Kommt nun der europäische Quantensprung?
Nicht nur vielen Franzosen kam es so vor, als hätte die anstehende Bundestagswahl zu einer künstlichen Pause im politischen Leben Europas geführt. 2013 war das Jahr, in dem in der EU nichts passierte, jedenfalls bis Ende September nichts passieren durfte. Das Thema Europa fand  dann auch im deutschen Wahlkampf schlicht nicht statt. Wie soll es nun aber weitergehen? Kommt der große Sprung, ein “Mehr” an Europa, auch an den ausdrücklichen Wünschen der deutschen Wähler vorbei? Was bedeutet das Abschneiden der neuen politischen Formation, Alternative für Deutschland (AfD)? Würde eine große Koalition mit der SPD zu einem „weicheren“ Kurs für Europa führen? Wird Frau Merkel endlich „le leadership“ in Europa übernehmen? Und wie soll sich Frankreich positionieren? Die linke Wochenzeitung „Nouvel Observateur“ entwirft schwarz-grau-rosa Szenarien, was Merkel III für Europa bedeuten würde, wobei rosa die „Europäisierung Deutschlands“, eine Vollendung der Bankenunion und die Einführung von Eurobonds und grau eine weitere „Germanisierung“ Europas, fortgesetzte Ordoliberalismus-Kuren bedeuten würde. Die „Echos“ wünschen Angela schlicht alles Gute bei der „Mission Impossible:“ Rettung Europa.

Von Cuba aus gesehen: Merkel hat sie alle in der Hand (copyright Alfredo Martirena)

Doch laut „Le Monde“ täuschen sich die Franzosen, wenn sie große Veränderungen, auch aus der Dynamik des deutsch-französischen Verhältnisses erwarten. Sparkurs und Reformdruck bleiben aufrechterhalten. Und höchstwahrscheinlich hält sich die Begeisterung für einen direkten Führungsanspruch Deutschlands sehr in Grenzen. Gérard Foussier, Chefredakteur der deutsch-französischen „Dokumente/Documents“ brachte es auf einer von Jacqueline Hénard moderierten Podiumsdiskussion am 26.09.13 am „Institut Catholique“ in Paris, an der auch Joachim Bitterlich und Prof. Hélène Miard-Delacroix teilnahmen, treffend auf den Punkt. In den deutsch-französischen Beziehung träfen sich zwei Komplexe: Auf der einen Seite Deutschland, welches nie wieder so stark wie in jüngerer nationalsozialistischer Vergangenheit sein will und auf der anderen Seite Frankreich, welches nie wieder so schwach wie unter selbigen Bedingungen sein möchte. „Ne plus jamais être aussi fort, ne plus jamais être aussi faible.“ An diesen Parametern haben auch die Bundestagswahlen nichts geändert.