Montag, 2. Juni 2014

„Europawahlen – Alles muss sich ändern“ von Johanna Möhring

Was ist die Steigerung einer schallenden Ohrfeige? Das fragen sich politische Beobachter nicht nur in Frankreich nach dem Ausgang der Wahlen zum Europaparlament am vergangenen Sonntag. Dritter Wahlgang der Kommunalwahlen, vorgezogene Präsidentschaftswahlen  – Egal, wie man den Sieg der „Front National (FN)“ etikettieren möchte: Das Wahlergebnis – die FN schnellte von 6,34 %, seinem Europawahlergebnis aus dem Jahr 2009, auf mehr als 25 % als stärkste Partei  –  ist nicht nur für den französischen Präsidenten eine Katastrophe. Das Rekordergebnis von Marine Le Pen und Co., bis jetzt unerreicht in der 30jährigen Geschichte der FN, gleicht laut Innenminister Manuel Valls einem politischen Erdbeben. Es sollte alle Parteien, von den Sozialisten, den Grünen (Europe Ecologie Les Verts), über das Zentrum (UDI-MoDem) bis nach rechts (UMP) zutiefst aufrütteln. 
Viele, (zu) viele Patrioten – mehr als 25% der Wähler stimmten in den Europawahlen für die Front National (zum Vergleich europaweite Ergebnisse rechtsextremer Parteien via The Economist)

Unter Versicherungen des Elysee-Palastes, man werde aus dem Wahlergebnis Lektionen ziehen, kündigte François Hollande am Montag, den 26. Mai  in einer Fernsehansprache erst einmal an, den Kurs seiner Politik beibehalten zu wollen. Was zähle, sei die rasche und konsequente Umsetzung bereits begonnener oder angedachter Reformen, wobei er eine radikale Konsolidierung der Territorialorganisation ankündigte. Nicht Frankreich, sondern Europa müsse sich ändern – mehr Wachstum, mehr Klarheit, mehr Vereinfachung, sowie Rückzug aus Bereichen, in denen es nicht gebraucht würde. Hier konnte ihm David Cameron beim Post-Wahltreffen der Regierungschefs am Dienstag in Brüssel nur beipflichten.
„Europa findet ohne uns statt. Der 25. Mai ohne mich. Lasst uns die Europawahlen boykottieren!“ Mouvement Republicain et Citoyen, Volkssouveränität gegen liberale Globalisierung (gesehen auf Pariser Straßen)
Europawahlen bieten die Möglichkeit, Protest an den Urnen auszudrücken - auf die eine oder andere Art. Nach einem mauen Wahlkampf von etwa 10 Tagen hatten, ähnlich wie schon 2009, 57% der Stimmberechtigten Besseres zu tun, als das neue Europaparlament, und damit gemäß Lissabonner Vertrags zum ersten Mal den zukünftigen Kommissionspräsidenten zu wählen. Selbst europhile Parteien, wie die UDI-MoDem und die Grünen konnten ihre Wähler nicht mobilisieren. Eine deutliche Botschaft, die in Frankreich niemanden wirklich erstaunt. Denn Europa wird in Frankreich nicht geliebt. 

Die Völker hörten nicht die Signale – 
Aufruf zur Europawahl durch die Kommunisten und die Linksfront
(gesehen auf Pariser Straßen)
Die, die abstimmten* taten dies, um eine Europäische Union zu sanktionieren, die sie in Zeiten der Krise nicht schützt. Und um eine politische Elite abzustrafen, die sich seit 30 Jahren scheinbar hauptsächlich damit beschäftigt, ihre eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen. Die Implosion der UMP unter der Last eines weitreichenden Parteienfinanzierungsskandals ist hierfür nur das aktuellste Beispiel

Viele Franzosen erleben die EU als europäischen Arm der Globalisierung, als technokratisches, wirtschaftsliberales Konstrukt: Keine Chance, sondern Bedrohung von Status und Identität. Herumgestossen von Kräften, die weder sie, noch das Politikpersonal auf nationaler oder europäischer Ebene zu kontrollieren scheinen, fühlen sich diese gesellschaftlichen Gruppen nicht mehr Herr ihres Schicksals. Zumal das französische Bildungssystem im europäischen Vergleich nur schlecht auf den internationalen Wettbewerb vorbereitet.

Was tun? Schon in den 1970ern hatte der französische Soziologe Michel Crozier auf die Gefahren einer „blockierten Gesellschaft“ hingewiesen – bürokratische Rigidität und mangelnde Einbindung der Zivilgesellschaft lähmten das Land. Das Problem ist inzwischen erkannt, doch nicht wirklich gelöst. 
„Dienen, ohne sich anzudienen“
Motto der Kaderschmiede ENA (Ecole Nationale d’Administration)
...Und ohne sich zu bedienen? 

Ebenfalls ungelöst ist die Frage der sozialen Mobilität und damit der Teilhabe an der Macht. Seit den 80ern rekrutieren sich die Studenten von Eliteschulen verstärkt unter den Sprösslingen ihrer Alumni. Das Absolvieren solch einer Schule wie zum Beispiel der Ecole Nationale d’Administration ist bis heute Voraussetzung, um Spitzenpositionen in Politik und Wirtschaft zu ergattern. Ist es Zufall, das sich Korruption seitdem endemisch im System auszubreiten scheint? Nicht nur die Journalistin Sophie Coignard verfolgt seit drei Dekaden, wie Teile der politischen Kaste den Staat als Selbstbedienungsladen nutzen - fast immer, ohne zur Rechenschaft gezogen zu werden. Das traurige Ergebnis kann man zuletzt in ihrem zusammen mit Romain Gubert herausgegebenen Buch „Die Oligarchie der Unfähigen“ nachlesen. 

Natürlich ist nicht alles faul im Staate Frankreich. Die große Mehrheit der Politiker und Beamten dient Frankreich und seinen Bürgern, ohne sich zu bedienen. Brillante junge Diplomanden verlassen Schulen und Universitäten. Unternehmen wollen investieren und erneuern. Doch eine Atmosphäre der Stagnation, während die Welt sich ringsherum rasend schnell zu wandeln scheint, ist greifbar. Hier liegt der Schlüssel zum Wahlerfolg des Front National: Eine Gesellschaft, die sich sowohl gebeutelt, als auch blockiert fühlt, ist idealer Nährboden für politische Kräfte, die demokratische, individuelle Werte niemals wirklich akzeptiert haben. Veränderung, für mehr Teilnahme und Teilhabe, muss jetzt kommen.


*  interessanterweise schnitt die „Front National“ auch außerhalb ihrer traditionellen Bastionen des Südens und Ostens gut ab. Wahlstimmen für die FN kamen zu 43 % von Arbeitern, zu 38 % von Angestellten und zu 37 % von Arbeitslosen.

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