Donnerstag, 9. April 2015

Adieu “realitätsbasierte Politik”? von Johanna Möhring


Im Westen nichts Neues. Trotz des Debakels der Kantonalwahlen diesen März  – 26 ehemals sozialistische “Départements” fielen an die Rechte, der “Front National” konnte seine Territorialstrategie weiter ausbauen* – ist in Frankreich links kein Kurswechsel in Sicht.

Im Juni steht der sozialistische Parteikongress in Poitiers an, der die Weichen für die Präsidentschaftswahlen 2017 stellen soll. Und eine breite Mehrheit der sozialistischen Partei wünscht sich nichts mehr, als unangenehme Themen unter den Teppich zu kehren.

Nach nur knapp zwei Jahren ist also die Zeit der unter den Sozialisten begonnenen Reformen offiziell vorbei. Die Zeichen stehen nun ganz auf Neuformierung der “majorité plurielle”, dem Sammeln linker Kräfte, was sich vor Präsidentschaftswahlen turnusmäßig abspielt – und meist den gesunden Menschenverstand strapaziert.

Debakel – UMP hält 66 “Départements” von 101, Wahlbeteiligung unter 50 Prozent
(Graphik TV5)

Die wenig mobilisierenden “Départementales” – Wahlen eines Binoms Mann-Frau, genaue Zuständigkeiten mangels rechtlicher Grundlage zum Wahlzeitpunkt unbekannt – mögen kein überzeugender Indikator für die politische Gemengelage der französischen Nation sein. Sie fügen sich aber in einen beunruhigenden Trend ein, der seit Jahren anhält und an dem auch die „Marche Républicaine“ des 11. Januar nicht viel ändern konnte:  Während sich die Mehrheit der Franzosen gelangweilt von der Politik abwendet, sagt eine stetig wachsende Minderheit den etablierten Parteien den Kampf an. Diese 'Sans-culottes' der Postmoderne sehen sich als Opfer ökonomischen Wettbewerbs, sie verurteilen die schon seit Jahrzehnten andauernde Lähmung des politischen Systems, sie prangern eine angenommene moralische und kulturelle Beliebigkeit an. 

Marine-Jeanne soll es richten
„Das Volk zuerst“ (Photo vom 01.05.2013, Le Figaro)

Nicht wenige EU-Bürger haben ein ambivalentes Verhältnis zur Globalisierung und ihrem europäischen Ableger, dessen Herzstück der gemeinsame Binnenmarkt ist. Was nicht weiter verwunderlich ist, Dani Rodriks „Trilemma“, nach dem sich Demokratie, nationale Selbstbestimmung  und wirtschaftliche Globalisierung partout nicht unter einen Hut bringen lassen,  lässt grüßen.

In Frankreich ist die Situation besonders vertrackt. Denn laut Laurent Cohen-Tanugi, der in seinem gerade veröffentlichen Buch What's wrong with France? Frankreich dazu aufruft, sich von Kopf bis Fuß neu zu erfinden, greift die Globalisierung die eigentliche Identität Frankreichs an. Sie untergräbt den Sockel französischer Exzellenz: Zentralität eines starken Staates mit intellektueller und kultureller Strahlkraft, und einer homogenen Gesellschaft, die auf dessen demokratische Institutionen vertraut.


Offenbar so einiges

Wettbewerb wird in Frankreich, egal, ob rechts oder links, meist nicht als Chance, sondern als Gefahr für nationale Besonderheiten gesehen. Es gilt, sich zu erinnern: das europäische Projekt selbst war immer ein Kompromiss diametral entgegengesetzter Anliegen, zwischen dem protektionistischen Instinkt der Franzosen (Stichwort gemeinsame Agrarpolitik) und dem Streben der Deutschen nach einem Export-Markt.

Wie reagieren traditionelle politische Akteure auf den Diskurs der Globalisierungsverlierer? Mit Worten statt Taten. Links wie rechts liebäugelt man in ganz Europa mit populistischen Argumenten, um beim Wähler Anklang zu finden. Oder man schwingt zu Abschreckungszwecken gerne auch mal die Totalitarismus-Keule. Unklar ist jedoch für alle politischen Großfamilien, ob sie die stetig zunehmende Zahl potentieller Protestwähler überhaupt noch erreichen können.

Denn populistische Kräfte argumentieren und agieren nicht nur längst außerhalb des klassischen politischen Ideenwettbewerbs. Sie stehen zudem stolz zu ihrer Ablehnung von “realitätsbasierter Politik”. Fakten? Sind relativ. Medien? Gekauft. Demokratische Institutionen? Alle korrumpiert. Außerhalb der Konventionen unseres demokratischen Lebens bleibt jedoch nichts als Emotion. Auf diese Herausforderung müssen nicht nur etablierte Parteien eine Antwort finden. 


* Zwar konnte der „Front National“ aufgrund des geltenden Mehrheitswahlrechts kein „Département“ erringen. Doch gelang es ihm, die Zahl ihrer Repräsentanten in den „conseils généraux“ (gewählte Versammlung auf Departementsebene) zu versechzigfachen. Damit scheint die Strategie von Marine Le Pen, ihre Partei lokal zu verankern, um sich so eine langfristige Machtbasis zu schaffen, aufzugehen: Die Wähler der 11 Kommunen, in denen der FN seit März 2014 einen Bürgermeister stellen, mobilisierten sich anlässlich der „Départementales“ stark für den „Front National“.

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