Montag, 19. Januar 2015

Das Paris-Syndrom. Von Johanna Möhring

"Paris, c'est le monde ; le reste de la terre n'en est que les faubourgs." 
(Marivaux, La Meprise, 1734)
(“Paris, das ist die Welt. Der Rest der Welt ist nur seine Vorstadt”)

Nach den blutigen Anschlägen des 7., 8. und 9. Januar steht Paris im Zentrum der Aufmerksamkeit. Wie kann die Stadt des Lichts, und mit ihr Frankreich, mit dem Terror fertig werden? 
„Fluctuat, nec mergitur“
(Place de la Nation, 11. Januar 2015, Photo Martin Argyroglo)
Schon seit römischen Zeiten gleitet Frankreichs Hauptstadt, deren Wappen ein Schiff ziert, über den Strom der Zeit. Unter dem schönen Motto “Fluctuat, nec mergitur”, von den Wogen der Geschichte hin- und hergeworfen, geht es doch nicht unter. Baron Haussmann ließ im vorletzten Jahrhundert radikal das Stadtbild vereinheitlichen, auch mit dem Hintergedanken, die periodisch aufrührerische Stadtbevölkerung durch breite, aufmarschfähige Avenuen unter Kontrolle zu halten. Dass auf ihnen 150 Jahre später friedlich, den Ordnungskräften applaudierend, mehr als 1,5 Millionen Bürger für Meinungsfreiheit und republikanische Einheit demonstrieren würden, hätte er sich sicher nicht träumen lassen.  

Es ist kein Zufall, dass das meistreproduzierte Photo der „Marche Républicaine“ vom 11. Januar 2015 ein Echo Pariser Stadtgeschichte ist. Denn Paris lebt wie keine andere Stadt im kollektiven Unterbewusstsein als eine Reihe von Bildern aus der Vergangenheit - fast so, als hätte es nicht das Recht, sich zu verändern. Doch wird dieser oft nostalgische, rückwärtsgewandte Blick dem jetzigen Paris und seinen Bewohnern gerecht? Französisches Leben findet heute woanders als in Postkartenmotivik statt, in relativ unspektakulären Vierteln, oder in den unbekannten und ungeliebten, gar gefürchteten Vorstädten. 
„Jeden Tag Sonntag“ (Photos Manolo Mylonas)
Regine Robin, Soziologin, Historikerin und eifrige Stadt-Wanderin, hat es mit ihrem Buch, “Le Mal de Paris” (frei übersetzt als Das Paris-Syndrom) auf den Punkt gebracht. Die französische Hauptstadt lebt in der Verweigerung ihrer selbst. Sie ist, wenn man einmal die Ringstraße, den ehemaligen Stadtwall, diesen Keuschheitsgürtel, wie Robin ihn nennt, verlässt, keine Metropole mit 3 Millionen, sondern eine Megapole von 10 Millionen Einwohnern. Für diese gelebte Realität gibt es aber keinerlei Repräsentation - der starre Blick auf vergangenen Glanz verhindert ihr Entstehen. Doch ohne neues Selbstbild kein politisches, zukunftsgerichtetes Handeln. 

Es drängt sich dem Beobachter der Gedanke auf, dass nicht nur Paris, sondern ganz Frankreich am Paris-Syndrom leiden könnte. Nach den Attentaten ist jedoch klar: Frankreich muss sich seinen Herausforderungen – der Schaffung von wirtschaftlicher Dynamik, von Innovation (auch institutioneller Natur) und von sozialem Zusammenhalt – ohne weiteres Zögern stellen. Paris und seine „banlieue“ stellen die Landkarte der sozialen, ethnischen, religiösen und kulturellen Bau- und Bruchstellen, die die französische Gesellschaft durchziehen.
„Ich bin Charlie, Jude, Bulle – Ich bin die Republik“ (Photo David Ramos (Getty))


Was in Paris geschieht, ist jedoch nicht nur ausschlaggebend für Frankreich. Nach den schockierenden Ereignissen der 2. Januarwoche ist das Land einmal mehr Brennpunkt des Weltgeschehens – hier kann sich in der Tat, wie in einer Tribune der New York Times geschrieben, das Schicksal Europas entscheiden. Wie soll es also nach der „Marche Républicaine“ weitergehen? Ein Land, das traditionell mit sich im Zwist liegt, hat mit feierlichem Erstaunen ein „Wir-Gefühl“ entdeckt. Über alle politischen und sozialen Gegensätze hinweg steht eine breite Mehrheit bereit, um am Projekt der Republik, seit 1789 im Bau, stolz Hand anzulegen. 

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