Donnerstag, 3. Dezember 2015

Flucht nach vorn ins Ungewisse – Deutschland, Frankreich und die Flüchtlingsfrage von Johanna Möhring

Karl Marx hinterließ uns die Einsicht, dass Geschichte sich wiederholt. Zuerst hüllt sie sich in das Gewand der Tragödie, beim zweiten Mal erscheint sie als Farce. Angesichts der aktuellen Flüchtlingskrise kann man sich fragen, ob Marx nicht unrecht hatte – denn auch Wiederholungen haben durchaus das Zeug zur Tragödie.

Der historische Präzedenzfall – Deutschlands unilaterale Anerkennung Kroatiens und Sloweniens im Jahre 1991 unter der Federführung Genschers. Die historische Wiederholung – Angela Merkels Entscheidung Anfang September, ohne ausreichende außenpolitische und innenpolitische Abstimmung hunderttausende Flüchtlinge in Deutschland jetzt und wohl auch in Zukunft willkommen zu heißen.

Beiden Entscheidungen ist gemein, dass man annehmen kann, dass sie durchaus mit den besten Absichten gefällt wurden, ganz im Sinne der Überzeugungsethik. Finstere Verdächtigungen, von verdeckt faschistischen Präferenzen Deutschlands für Kroatien oder purem ökonomischen Interesse eines geburtenschwachen Deutschlands an menschlichen Ressourcen lassen sich mit ziemlicher Sicherheit von der Hand weisen.

Was sich nicht von der Hand weisen lässt, ist die Tatsache, dass beide Entscheidungen im besten Falle waghalsig waren: Sie schafften nicht mehr rückgängig zu machende Tatsachen, mit fatalen Folgen für ein politisches System.


„Niemand kann mir weismachen, dass die Großzügigkeit der Deutschen ohne Hintergedanken ist – Sie wollen uns schlicht schlechtes Gewissen machen.“

Cartoon des Canard Enchaîné vom 15. September 2015

Während Angela Merkel und ihre Regierung unter wachsenden innenpolitischem Druck gerät und unter anderem per Anlegen von Daumenschrauben auf ein gemeinsames Schultern der Flüchtlings-Lasten im Rahmen der EU pocht, fällt die Zurückhaltung von Paris auf. Wie auch schon im Falle des unilateralen, innenpolitisch-taktisch motivierten Atomausstiegs post-Fukushima hat Merkel die Franzosen schlicht vor vollendete Tatsachen gestellt - egal, wie problematisch die Konsequenzen für den französischen Partner auch sein mögen.



Deutschland: Gefühl der Verpflichtung, Flüchtlinge aufzunehmen und Hoffnung für die Zukunft überwiegt


Wie eine IFOP Studie, die vom französischen Institut Jean Jaurès (nahe der sozialistischen Partei) diesen September in Auftrag gegeben und im Oktober wiederholt wurde, deutlich macht, könnten die innenpolitischen Reaktionen Frankreichs und Deutschlands auf die Flüchtlingskrise nicht gegensätzlicher sein. Während Deutschland sich weiterhin verpflichtet fühlt, Flüchtlinge aufzunehmen und trotz enormer zu erwartender Schwierigkeiten dies stemmen zu können meint, überwiegt in Frankreich die Angst vor einer Welle von Einwanderern und den gesellschaftlichen Folgen von Migration.


Frankreich: Fürchtet jetzige und kommende Migration und ihre Auswirkung auf den sozialen Zusammenhalt

So wirkte der gemeinsame historische Auftritt Angela Merkels und François Hollandes am 7. Oktober vor dem Europäischen Parlament, auf den Spuren Kohls und Mitterrands 26 Jahre vor ihnen nach dem Fall der Mauer, seltsam blass. Zwar sollte deutsch-französische Solidarität signalisiert werden, doch die unterschiedlichen Positionen, was Syrien und die Flüchtlingsfrage betrifft, ließen sich nicht verbergen. Zudem musste sich Hollande auch von Marine Le Pen als deutschen Vize-Kanzler, Verwalter der Provinz Frankreichs bezeichnen lassen. Das deutsch-französische Tandem erschien in Ermangelung einer eigenen Europastrategie Frankreichs einmal mehr als Feigenblatt deutscher Vormachtstellung.

Wie Hans Stark vom Institut Français des Relations Internationales, IFRI (Interview 14. September 2015, France Culture) herausstreicht, stellen Flüchtlinge, zumindest bis vor kurzem, für viele deutsche politische Verantwortliche ein humanitäres Problem temporärer Natur dar. Flüchtlinge sollen zeitlich begrenzt aufgenommen werden, administrative und finanzielle Ressourcen geraten zwar unter Druck, sind aber prinzipiell vorhanden. Laut der oben erwähnten IFOP Jean Jaurès sehen das die Bürger Deutschlands, sowie Frankreichs ganz anders: Sie gehen mehrheitlich davon aus, dass Flüchtlinge, die die EU bereits erreicht haben und die, die noch kommen werden, in ihrer großen Mehrheit in Europa bleiben werden. Und die Mehrheit aller Befragten gibt an, dass sie es vorziehen würden, wenn alle Flüchtlinge wieder nach Hause zurückkehrten.


Frage: Ihrer Meinung nach, werden aufgenommene Flüchtlinge...ihr Leben hier einrichten (rot)...in ihr Herkunftsland zurückkehren (blau) ?

Für die Franzosen, sowie auch für andere EU Mitgliedstaaten, so wie Großbritannien, die Niederlande oder Dänemark, ganz zu schweigen von den mittel- und osteuropäischen Staaten, stellt der Zustrom von Flüchtlingen im Kern ein Souveränitätsproblem dar. Das Analyseraster vor dem Hintergrund erstarkender Parteien des extrem rechten Spektrums ist Globalisierung und deren Auswirkung auf Innenpolitik und soziale Kohäsion, hier im Gewand der Migration. Der Zeithorizont ist nicht ein paar Jahre, sondern die nächsten Jahrzehnte. Im Gegenteil zu Deutschland halten diese an der Vision des Nationalstaates, der seine Grenzen verteidigen kann und will, fest – mag diese zeitgemäß sein oder nicht.




Frage: Wünschen Sie sich, dass aufgenommene und aufzunehmende Flüchtlinge...nach dem Verbleib von einigen Monaten und Jahren in ihr Land zurückkehren (rot)...oder hier bleiben (blau)?

Fakt ist, dass die Aufnahme von Flüchtlingen in momentanen Ausmaßen keine strikt humanitäre Politik darstellt, sondern de facto Einwanderungspolitik ist, deren Folgen auch mit enormen Einsatz von finanziellen Mitteln und forderndem Engagement, was Integration betrifft, nicht absehbar sind*. Nur betreffen diese aber aufgrund des gemeinsamen Binnenmarktes nicht nur Deutschland, sondern alle EU Mitgliedsstaaten.

Einmal ganz davon abgesehen, welche Alternativen zur aktuellen deutschen Politik bestanden und bestehen - die Migrationsfrage hat alles Zeug dazu, der gemeinsamen Währung den Rang als innereuropäischen Zankapfel abzulaufen. Zur Nord-Süd Spaltung, die dem Dauereurodrama geschuldet sind, gesellt sich nun ein neuer Ost-West-Konflikt zum Thema Migration, verstärkt noch durch die terroristischen Anschläge, die Paris erschüttert haben. Einmal mehr zeigt sich, dass Deutschland gerade die Dinge, die es eigentlich im Rahmen der Europäischen Union bewahren möchte – Europa, Einheit – gefährdet. Und dass Frankreich in Ermangelung einer eigenen Europastrategie auch in dieser Frage zwischen den Stühlen sitzt.



* hierzu eine interessante Studie des deutschen Ökonoms Daniel Stelter, der gerade mit seinem Buch “Die Schulden im 21. Jahrhundert,” einer Kritik von Thomas Pikettys “Das Kapital im 21. Jahrhundert“ in Deutschland für Aufsehen sorgt.

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